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Grußwort von Steffen Graupner zur Jahresversammlung der Internationalen Georg-Wilhelm-Steller-Gesellschaft am 7. Oktober 2020

Liebe Teilnehmer der 26. Deutsch-Russischen Begegnungen,

von unserer Eisscholle auf 89° 08′ N möchte ich die Zuhörer und Referenten der Deutsch-Russischen Begegnungen herzlich grüßen. Gewiss wird unser Treffen in diesem Jahr, teils online virtuell, teils ganz klassisch real, eine besondere Herausforderung, die uns zweierlei so intensiv wie selten zuvor erfahren lässt: Die Grenzen überschreitende Kreativität der Menschen beim Überwinden von Hindernissen – und die Verwundbarkeit unserer Spezies auf diesem verletzlichen Planeten Erde.

Genau dieses „System Erde“ besser verstehen zu können, verbringen wir Teilnehmer der MOSAiC-Eisdriftexpedition (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate) ein Jahr im arktischen Ozean. Auf dem deutschen Forschungsschiff Polarstern haben wir uns im Oktober 2019 nördlich der Neusibirischen Inseln im Eis einfrieren lassen und driften seitdem passiv mit der transpolaren Meeresströmung über den Nordpol gen Grönland. Wir wollen das Eis der Polkalotte über den Verlauf eines Jahres umfassend studieren. Bislang konnte die Arktis im Winterhalbjahr noch nie mit einem solch breiten Spektrum modernster Instrumente untersucht werden.

Die MOSAiC-Expedition wird maßgeblich getragen von den beiden Führungsnationen Deutschland und Russland. Deutschland stellt für ein Jahr mit seinem Forschungseisbrecher Polarstern die schwimmende Laborplattform für all unsere Operationen und den Großteil der Finanzierung – und Russland nutzt seine Eisbrecher Akademik Federov, Akademik Tryoshnikov und Kapitan Dranitzsyn für die mehrfache logistische Versorgung der Polarstern. Mit der engen Kooperation unser beider Nationen steht MOSAIC in logischer historischer Nachfolge zur Großen Nordischen Expedition von Vitus Bering. Haben Vitus Bering und Georg Wilhelm Steller mit ihrer Expedition Sibirien im Raum vermessen, so erschließt MOSAiC 280 Jahre später auf der größten Arktisexpedition aller Zeiten feinskalig die dynamischen Interaktionen von Atmosphäre, Kryosphäre, Hydrosphäre und Biosphäre und ihre Rückkopplungen mit dem Klimasystem.

Insgesamt fünf Teams von je 100 Wissenschaftlern, Logistikern und Polarfahrern aus 20 Ländern und 80 Partnerinstitutionen wechseln sich in mehrmonatigen Fahrtabschnitten ab. Die Internationalität der Teilnehmer aus Deutschland, Russland, Frankreich, USA, …., China erinnert mich in besonders charmanter Weise an die babylonisch sprachbunte Gemeinschaft, wie sie sich alljährlich im Hause Hintzsche fröhlich zum feierlichen Begrüßungsabend einfindet. Ich hatte das große Glück, von November bis April auf der Polarstern überwintern zu dürfen und kann die Drift nun im Sommer erneut für drei Monate begleiten.

Mit MOSAiC greifen wir eine alte Idee von Fridtjof Nansen auf, der 1893-95 auf dem Driftweg den Pol zu erreichen suchte und dabei erste einfache ozeanografische Messungen vornahm. Seit Nansens Drift hat sich die Arktis jedoch dramatisch gewandelt. Nach wie vor ist die Arktis selbst nur von wenigen Menschen besiedelt – und bestimmt doch gleichwohl das Wettergeschehen für nun mehrere Milliarden Bewohner der gesamten Nordhalbkugel. Während wir in Mitteleuropa ca. 1°C Temperaturanstieg seit vorindustrieller Zeit verzeichnen, sind es in der Arktis bereits 4°C. In Teilen der östlichen russischen Arktis, zuerst detailliert erkundet von der Nördlichen Gruppe der Zweiten Kamtschatka-Expedition unter Wassili Prontschischtschew, Dmitri & Chariton Laptew sowie Semjon Tscheljuskin, sehen wir vor allem an der Beringstraße Temperaturanstiege von bis zu 10°C. Wir alle erinnern uns an die Hitzewelle in Nordsibirien vom Frühsommer! Freunde aus Tschukotka und Alaska berichten, wie sich das traditionelle ans Eis gebundene Leben der Tschuktschen und Yupik-Eskimos im Zeitraffer verändert. Ohne Eis fehlt den Ureinwohnern der Beringstraße im Winter die Plattform zur Jagd auf die Meeressäuger. Walrosse verlassen ihre jahrtausendealten Liegeplätze, Wale verändern ihre Zugrouten, Seevögel verhungern zu Hunderttausenden an ehemals dichtbesetzten Vogelfelsen. Rings um das Beringmeer müssen sich die Menschen neue Nahrungs- und Erwerbsquellen suchen, verlieren oft genug die Siedlungen ihrer Vorfahren an die nun küstenlinienverzehrenden Herbststürme. Und uns Menschen der sogenannten ersten Welt bringt der verringerte Temperaturgradient zwischen der Arktis und den niedrigen Breiten über den „Transmissionsriemen“ instabilerer Jetstream nunmehr Winterkälte nach Nordamerika sowie milde Winter und heiße Sommer nach Europa.

Warum jedoch erwärmt sich die Arktis so viel schneller als der Rest der Welt? Vieles ist uns dabei noch völlig unklar. Darüber mehr zu lernen, ist Kernanliegen der MOSAiC-Expedition. Und es gibt eine Fülle weiterer Fragen: Wie und wo und in welcher Form verbringt das Phytoplankton als Grundlage der arktischen Nahrungskette den dunklen kalten Winter? Wie sehen die Stoffströme aus – vertikal zwischen Ozean und Atmosphäre durch die Grenzschicht Eis hindurch, genauso wie horizontal zwischen den umgebenden Festländern und dem arktischen Ozean? All das müssen wir in einem ersten Schritt verstehen, um dann das „System Klima“ rational quantifizieren und modellieren zu können. Erst danach kann es im öffentlichen Rahmen verantwortungsvoll diskutiert werden.

Vor wenigen Wochen hat MOSAiC den Nordpol erreicht. Die 90 Grad Nord sind natürlich ein singulärer Punkt, der zum Innehalten einlädt. Der Globus im Geographieunterricht meiner Schule hat den Nordpol immer „oben“ verzeichnet. Und so ist das vielleicht auch ein geeigneter Ort, um mit besserer Übersicht auf unsere Erde und unser menschliches Tun auf ihr zu blicken? Um uns unserer eigene Verletzlichkeit bewußt zu werden?
Der kleine Eisfuchs, der uns neulich besuchte, kann einfach so, nur mit seinem Fell geschützt, 40 Grad Kälte und Winterstürmen trotzen und findet sein Futter in der beginnenden Polarnacht – und wir Zweibeiner benötigen die unglaublichste Logistik von Eisbrechern, Kühlcontainern, Schneemobilen und Hightech-Bekleidung für unser Überleben. Gestern spazierte ein junger Eisbär durchs Camp, legte sich hinter der Polarstern an einer offenen Wasserrinne auf Lauer – und erlegte nach wenigen Stunden eine Ringelrobbe. Manchmal sind wir, bei allem wissenschaftlichen und technischen KnowHow, einfach nur staunend sprachlos. Und, für mich ganz persönlich: Aus dem Staunen heraus erwächst in demutsvoller Verantwortung der Wunsch, meinen Kindern diese zauberhafte Schöpfung von Eis, Polarfuchs, Schneekristallen, pastellfarbenen Sonnenuntergängen und Eisbären zu bewahren. Dieses Ziel zu erreichen, mögen sich Wissenschaft, Politik und Frömmigkeit auch im 21. Jahrhundert aufs Trefflichste ergänzen!

Alle Welt blickt auf den Nordpol als Kulminationspunkt der Breitengrade, zählt in Annäherung die geographische Breite hoch, 87°N, 88°N, 89°N, 90°N. Viel spannender ist aber doch, dass genau in dem Moment, wo wir den Pol betreten, die Längengrade ihre Bedeutung verlieren. Ost und West werden ununterscheidbar, verschmelzen miteinander, lösen sich auf. Und die Umrundung der Erde ist mit einer Handvoll Schritte getan. Vielleicht unterscheidet Ost und West am Ende gar nicht so viel mehr als ein paar zufällige Längengrade? Und, vielleicht, …, vom Pol aus betrachtet, können wir uns über diese Längengrade hinweg die Hände reichen und zusammen die wirklich wichtigen Probleme lösen?

In diesem Sinne wünsche ich allen Menschen aus Ost und West fruchtbringende Deutsch-Russische Begegnungen in Halle.

Steffen Graupner
(September 2020, An Bord der Polarstern, Zentraler Arktischer Ozean)


Alle Fotos © Steffen Graupner 2020 | Verwendung unter „CC BY 4.0“ Lizenz.